Dienstag, 12. Juli 2016

Teil 5: Amorphiumphilosophat

Wie von Leonardo vorgeschlagen schlage ich am Freitagmorgen Punkt 10 Uhr auf dem Vereinsgelände auf. Ich stelle meinen Wagen auf den üblichen Platz, marschiere dann aber nicht in die Geschäftsstelle, sondern über die Innentreppe des Hauptgebäudes in Richtung der Umkleidekabinen. Im Trainerzimmer hat mir unser Zeugwart Mario die versprochenen Trainingsklamotten rausgelegt und so werfe ich mich in Schale und betrete kurze Zeit später den Rasen von Trainingsplatz H-1.

Die meisten Spieler sind schon da und gut drauf. Auch als mehrfacher Champions League-Sieger freut man sich schließlich noch über einen Halbfinal-Einzug gegen das ehrwürdige Barcelona. Als die ersten Spieler mich sehen, erlebe ich das erste Mal Bekundungen von Solidarität. Jedenfalls fühlt es sich so an: Als erstes watschelt der ansonsten eher introvertierte Alban Lekaj auf mich zu und klatscht herzlich mit mir ab. Er übt damit wohl schonmal seine Rolle als Kapitän ab nächsten Sommer. Es folgen ihm sein Sturmkollege Christian Steger, dann unser Flügelzauberer Armiche und Abwehrorganisator Gargamel, der eigentlich Carmine Gargiulo heißt, aber trotz seines Könnes einen derartigen Zerstörerfußball zelebriert, dass man ihn irgendwann so getauft hat wie den Möchtegern-Zerstörer der Schlümpfe.
Ob die Spieler einfach nur freundlich sind oder ob sie Bescheid wissen von meinem Vorfall vorgestern Nacht - keine Ahnung. Ist mir gerade aber auch egal - Ich genieße einfach diese Anerkennung und gehe nach einer großen Abklatschrunde schon ziemlich in der Vereinsseele auf.
Nach ein paar Pläuschchen betritt dann auch Leonardo den Platz und mit ihm seine beiden Co-Trainer - der italienische Sebastian und der deutsche Bastian. Sie schicken die Spieler sofort zum Einlaufen und ich reihe mich in die zeitgleiche Gesprächsrunde der Trainer ein. Ob die etwas von dem Vorfall in Kiew erfahren haben? Auf meine Frage, ob ich irgendwie helfen kann, meint Leonardo lachend, dass das schon die beiden Bastis erledigen und so stehe ich schon wenig später allein neben meinem Chef und erhalte schneller als gedacht die nächste Möglichkeit zum Gedankenaustausch. Gedankenaustausch im Sinne von 'Ich höre mir an, was Leonardo denkt' natürlich.

Freudigerweise scheint er sich aber heute für meine Gefühle zu interessieren: Er fragt mich, wie ich geschlafen habe und als ich getreu dem Motto, ihn nicht weiter mit meinem Kram zu belasten, nur einen sehr verhaltenen Eindruck in mein Innenleben gebe, erzählt er mir, dass ich mir keine Sorgen machen soll - Er hat ein wenig nachforschen lassen und die ganze Sache stinkt offenbar zum Himmel.

Währenddessen leiten die beiden Bastis das Training im Prinzip alleine: Nach dem Einlaufen spalten sich unsere Torhüter mit unserem wegen Stau gerade erst eingetroffenen Torwarttrainer Valerio Fiori ab und gehen ihren üblichen Übungen nach. Die anderen Spieler teilen sich in zwei Gruppen: In der einen wird unter Italiener Sebastian mit wechselnden Aufgabenstellungen kreativ auf Kleinfeldtore gespielt, die andere Hälfte der Mannschaft erhält von der einheimische Hälfte des Co-Trainer-Gespanns Unterweisungen in Sachen Abwehrarbeit - Schließlich kommt mit Jonas Iser übermorgen einer der gefährlichsten Bundesliga-Torjäger in unsere Stadt.

Leonardo und ich stehen etwas weiter weg und beobachten das Treiben - Zumindest ich bin mit meinen Gedanken aber ganz woanders.
"Wie kann denn das ein abgekartetes Spiel sein?", frage ich meinen Trainer.
Der weist mich auf den Begriff 'Amorphiumphilosophat' hin. "Kannst Du damit was anfangen?", fragt er mich.
Ich kann: Amorphiumphilosophat (oder: die Liebweil-Droge, wie sie von deutschen Medien liebevoll getauft wurde) ist ein flüssiges Präparat, das seit etwa drei Jahren die Welt der Strafverfolgung in Atem hält. Es wird gerne mit Essen, Trinken und anderen Zufuhrmöglichkeiten in die Blutbahn vermischt, damit es durch die Verdauung nach der Einnahme zwei wesentliche Effekte erzielen kann: a) dass eine starke Steigerung des Sexualtriebs beim Konsumenten stattfindet und b) dass die so genannten 'Spiegelneuronen' im Gehirn vorübergehend betäubt werden. Die Spiegelneuronen wiederum sind dafür verantwortlich, dass wir Menschen uns in die Lage von unseren Artgenossen hineinversetzen und dadurch Mitgefühl für sie empfinden können. Ergo: Armorphiumphilosophat macht den Menschen zu einem rücksichtslosen Raubtier. Und das alles nur für das schnelle Geld von ein paar Hackern: Die Droge gelangte nämlich unter die ihr zugetane Bevölkerung, nachdem bis heute Unbekannte das Rezept aus der Datenbank einer amerikanischen Forscherstation entwendeten. Deren Mitarbeiter waren eigentlich zuständig für das Erschaffen von Biowaffen. Schnell war mit verschiedenen Institutionen des organisierten Verbechens dann auch ein Abnehmer gefunden und die wiederum verkaufen das Zeug seitdem als billigen Willigmacher an die internationale Partygesellschaft. Hauptabnehmer: Nepper, Schlepper, Bauernfänger - und bestimmte Bereiche des Showbusiness.

"Und das soll man mir verabreicht haben?", frage ich nach.
Der Gedanke, dass die Liebweil-Droge jetzt auch in die Welt der Fußballfunktionäre Einzug erhält, kommt mir nämlich genau so abwegig vor wie die Vergewaltigung zweier Frauen im minderjährigen Alter. Aber auch das ist ja offenbar passiert.
Leonardo beugt sich vielsagend zu mir rüber und meint:
"Daniele Rucchi ist offenbar ein übler Kerl. Zwielichtig". Dabei grinst er - ob zynisch oder wohlwollend ist schwer zu sagen.
Mir wird ganz schlecht. Ich kann kaum glauben, was ich da höre: Als ich Daniele vorgestern kennengelernt habe, wirkte er auf mich nicht wie ein Drogendealer. Ganz im Gegenteil: Er wirkte eigentlich ganz nett. Andererseits: was habe ich von dem Kerl eigentlich mitbekommen außer einen vertrauensvollen Eindruck? Wir haben getalkt, getrunken - nichts Verfängliches, aber viel Vergängliches. Er war als Gastgeber angenehm, zuvorkommend - so wie man eben sein muss, wenn man es in der Fußballwelt zu etwas bringen will. Im Prinzip so wie ich: gleichalt, gutaussehend, aufstrebend - gar nicht fies oder hintertrieben. Jedenfalls nicht mehr als ich es bin. Und der soll mir das jetzt untergemischt haben? Und vor allem: warum?

Leonardo scheint meine Gedanken lesen zu können.
"Was denkst Du, was die wollen?", fragt er mich bedeutungsschwer.
Ich aber brauche noch ein bisschen, um mich zu gebären: "Die"? Was wollen "Die"? Wer sind denn "Die"? Wer will was? Die Mafia? Daniele Rucchi? Inter Mailand? - Inter Mailand! Da hat es geklingelt.
"Inter Mailand?", frage ich verblüfft und bin danach noch verblüffter wegen dieser blöden Abstraktion. Leonardo macht den Ansatz eines Nickens, aber ich unterbreche ihn, indem ich jeden meiner abstrusen Gedankengänge ausspreche:
"Inter Mailand... wegen... war... Inter Mailand? Erpressung?"
Leonardos Nicken.
"Wegen Mario? Mario Mocic? Inter Mailand?"
Ich stottere dabei wie ein Kind, das von einem anderen Kind dabei erwischt wurde wie es einen Lolli klaut und jetzt gesagt bekommt, dass das andere Kind den Lolli vorher geklaut habe - und zwar von ihm. Aber nicht wegen des Lollis. Sondern da geht es um eine Prinzessin in der Diaspora und die hat eigentlich einen Lolli und... ja. Schwer zu sagen, ob mich das jetzt erleichtern soll. Einerseits fühle ich mich nach wie vor schuldig, andererseits bin ich aber auch erleichtert, gespannt - auf jeden Fall total verwirrt. Mir ist irgendwie noch nicht klar, wieso ausgerechnet ich das zentrale Opfer eines Erpressungsversuchs werden soll. Und wieso die nicht einfach fragen. Und Leonardo mich nicht einfach entlässt. Und wieso gerade ich zu einem autistischen Vollzeitzyniker mutiere, wenn mir das Wasser doch eigentlich bis zum Halse steht. Ich hab Kopfschmerzen.

Ich weiß nicht. Ich weiß nichts. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll und gucke einfach vorwärts. Leonardo tut es mir gleich und guckt mit. Wir starren minutenlang auf das Geschehen auf dem Trainingsplatz, der eine mehr und der andere weniger geistesabwesend. Irgendwann gibt es dann vom deutschen Bastian einen Pfiff und die Spieler tauschen die Gruppen. Das Training geht weiter. Immer weiter. Aber irgendwann ist dann Schluss. Übermorgen kommt ja schließlich noch Wolfsburg.

Szenenwechsel.
In einem Kiewer Café sitzt derweil Daniele. Er beobachtet das bunte Treiben und versucht, sich von seinem schlechten Gewissen abzulenken. Aber das Gewissen siegt. Und das Gewissen setzt auch schon den Gedankenapparat in Gang - Hirnwichserei nennt das der italienische Psychologe Giacobbe und auch Daniele könnte mal wieder eine Sitzung bei seinem Therapeuten gebrauchen. Aber er kann jetzt nicht nach Italien zurückkehren im Moment - würde er es, würde der gemeinsame Plan platzen. Er hat gestern noch kurz mit seinem Auftraggeber gesprochen - mit dem einzigen Mann, der die Macht hat, ihm alles zu versprechen: eine Menge Geld, Rache an seinem Vater, einen Neuanfang... aber ist es wirklich ein Neuanfang, wenn man die Vergangenheit nie gänzlich abschütteln kann? Die Vergangenheit, in der er einen Unschuldigen in etwas hineingeritten hat, das dieser vielleicht gar nicht will?
Aber ist Michael wirklich unschuldig? Unschuldige haben schließlich ein Bewusstsein für das Schlechte in der Welt. Und das hat er nicht. Also ist Michael genauso einer von den Schlechten. Und er ist der Gute. Er und sein Auftraggeber. Seien wir doch mal ehrlich: Woher soll ein oberflächlicher Typ wie Michael wissen, was gut für ihn ist? Eigentlich ist das Motiv seines Auftraggebers also ziemlich edel.
Stop it!
Das sind schon wieder hypothetische Gedanken.
Dieses Denken bringt ihm nichts. 'Hör auf mit der elenden Fragerei!', sagt er zu sich selbst und denkt an den Newhart-Sketch, in dem eine Frau von ihrem Therapeuten eine ganz einfache Empfehlung kriegt, mit ihren Gedanken aufzuhören:
Stop it!
Wenn sein Exil vorüber ist, wird er sich auf jeden Fall einen neuen Therapeuten suchen. Einen guten. Genug Geld hat er ja jetzt.

Daniele hat genug von Café und Leuten, will wieder zurück in sein Hotel und steht auf. Er kramt in seiner Tasche, findet sein Portemonnaie - da steht auf einmal ein Mann in Schwarz hinter ihm.

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